„Der Verbrauch von Post-Its ist höher. Überall kleben kleine gelbe Zettel mit deutschen Begriffen.“ Das sei, verriet Nils Bollhorn schmunzelnd, der Unterschied zwischen den bisherigen Einrichtungen der stationären Jugendhilfe und den neuen Clearingstellen in der Gemeinde Bad Essen. Der pädagogische Leiter des Kinderhauses Wittlager Land informierte etwa 40 Bürgerinnen und Bürger aus Wehrendorf über die Einrichtung für unbegleitete minderjährige Ausländer (umA.) in der Ortstraße.

Zum Unternehmensverbund des Kinderhauses Wittlager Land zählt auch die Verbund Sozialer Dienste (VSD) gGmbH, deren pädagogischer Leiter Bollhorn ebenfalls ist. Der VSD ist Träger der Clearingstellen auf dem Essenerberg (seit Oktober 2015) und in Wehrendorf (seit Januar 2016). Welche Jugendlichen werden denn aufgenommen? „Sie gelten als unbegleitet, wenn sie jünger als 18 Jahre sind und ohne eine sorgeberechtige Person einreisen“, erklärte Bollhorn. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz mache hierbei keinen Unterschied zwischen deutschen und ausländischen Jugendlichen. „Der Staat ist verpflichtet, sie in Obhut zu nehmen, weil sie sich nicht selbstständig versorgen können. In unseren Einrichtungen sind es in der Regel 16- oder 17-jährige Jungen“, so der 36-Jährige.

Viele kommen in der Hoffnung nach Deutschland, dass sie als Minderjährige das Recht haben, ihre Familie nachzuholen. „Diese Jungen haben auch im übertragenen Sinne schweres Gepäck mit sich zu tragen. Sie spüren die Verantwortung für ihre Familien. Nicht zuletzt, weil sie tausende Dollar an die Schleuser bezahlen mussten“, weiß Bollhorn. Manche seien zudem traumatisiert: „Sie haben Angst um ihre Angehörigen, haben gesehen, wie Leute hingerichtet wurden oder ertrunken sind.“

Im Jahr 2013 sei ein umA. im Landkreis Osnabrück untergebracht worden. 2015 waren es mehr als 60.000 in Deutschland, etwa 4000 davon in Niedersachsen. Die Verteilung auf die Landkreise und Kommunen erfolge nach dem so genannten „Königsteiner Schlüssel“. „Der Staat muss Plätze schaffen und für eine Betreuung sorgen. Das ist eine riesige Herausforderung: Personal, Räume, Standards erfüllen. Im Landkreis Osnabrück klappt dies aber sehr gut“, lobte Bollhorn. Das Jugendamt habe früh genug reagiert und die Bedarfe erkannt.

In Wehrendorf arbeiten unter anderem eine Psychologin, eine Sprach- und Kulturfachkraft sowie eine Case-Managerin im Team. Leiterin ist Cleo Sosnowski, die vorher beim Kinderhaus Wittlager Land den Fachbereich Inklusion geleitet hat. In einem Zeitraum von etwa drei bis sechs Monaten gehe es darum zu klären (Clearing), welche Perspektiven die Jugendlichen haben. Dabei stehen zunächst alltägliche Dinge wie das Erlernen der Verkehrsregeln im Vordergrund. Es werde außerdem geprüft, ob sie sich selber versorgen und bekochen können oder ob sie mit dem Busnetz klarkommen.

In den ersten Tagen seien sie daher verständlicherweise sehr angespannt. „Aber nach etwa zwei Wochen tritt Normalität ein. Sie sind dann äußerst lernbereit und lernwillig“, hat Bollhorn festgestellt. Der Großteil habe sich inzwischen auch Sportangebote des TuS Bad Essen und des VfL Lintorf ausgesucht.

Am Ende des Clearings, das nicht unbedingt enden muss, sobald der Jugendliche 18 Jahre alt wird, gebe es in der Regel fünf Optionen. Eine ist es, dass er alleine eine Wohnung bezieht. „Oft scheitert es an der Sprachbarriere und dem jungen Alter“, so Bollhorn. Wahrscheinlicher sei es, dass der Jugendliche eine Wohnung oder WG bezieht und eine pädagogische Fachkraft hin und wieder nach dem Rechten sieht. „Schwer traumatisierte Jugendliche bleiben weiter in stationärer Betreuung“, betonte der pädagogische Leiter. Verwandte in Deutschland könnten das Sorgerecht bekommen, aber auch die Rückführung in das Heimatland sei möglich.

In Wehrendorf sind Jugendliche aus Afghanistan und aus Somalia untergebracht. Auf dem Essenerberg kommen die umA. aus Syrien, Pakistan, Afghanistan, Irak und Albanien. „Wir finden es wichtig und richtig, dass verschiedene Nationen zusammen in einem Haus leben“, so Bollhorn.

Cleo Sosnowski berichtete noch aus dem Alltag. Die Jugendlichen werden genau so behandelt wie ihre Altersgenossen aus Deutschland. Um 22 Uhr müssen sie in der Regel zurück sein, Ausnahmen seien nach Absprache aber möglich – wie in einer normalen Familie eben auch. Die Jugendlichen haben jedoch eine Mitwirkungspflicht: Sie müssen den Willen zeigen, sich an die Regeln zu halten.

Die Bürgerinnen und Bürger aus der Nachbarschaft seien jederzeit willkommen. Wer etwas spenden möchte, zum Beispiel Fahrräder, solle sich an den Tabita-Freundeskreis wenden. „Wir werden da gut unterstützt und teilen Tabita mit, was wir benötigen“, so Bollhorn. Eine Möglichkeit bei der Integration zu helfen, können zum Beispiel Sprachpatenschaften sein. Das bedeute, dass ein Jugendlicher aus Afghanistan und ein Deutscher gegenseitig versuchen, dem Gegenüber Grundkenntnisse der Sprache beizubringen.

Und vielleicht hängen dann bald in vielen weiteren Haushalten kleine gelbe Zettel – mit persischen Begriffen.